Alle Jahre wieder begrüßen meine Familie und ich einige unbeliebte Gäste unter unserem Christbaum. Eigentlich hat sie niemand wirklich eingeladen, dazu gehören sie aber trotzdem irgendwie. Ich habe sie mal wieder mitgebracht. Gut, um ehrlich zu sein kamen sie einfach mit.
Es mag paradox klingen, aber ich kenne sie schon seit acht Jahren. Wir teilen sogar ein Bett. Ich schlafe immer in der Mitte. Jeden Morgen flüstert mir jemand kraftlos in mein linkes Ohr:„Dein Leben ist doch sowieso schon eine Katastrophe. Warum heute aufstehen?“ Daraufhin ertönt es empört zu meiner rechten:„Im Bett bleiben? Davon wirst du nur noch fetter als du eh schon bist! Los, ich habe richtig Lust darauf heraus zu finden, wie lange du heute ohne Essen auskommst.“ Während dieser Debatte schlingt sich jemand um meine Brust und meinen Hals, sodass ich das Gefühl habe kaum atmen zu können. Mal wieder bin ich davon überzeugt, dass ich sterben werde. Typischer Dienstagmorgen.
Wie wir uns kennenlernten
Praktisch mit der Tür ins Schloss fielen meine Panikattacken, zusammen mit meiner Angst- und Panikstörung, an Weihnachten 2011. Einen Monat zuvor feierte ich meinen vierzehnten Geburtstag. Natürlich bemerkte ich in den Wochen zuvor schon Veränderungen, beispielsweise Atemnot, Schlaflosigkeit, Erstickungsgefühle und eine unglaubliche innere Unruhe/Anspannung. Da ich jedoch keine Erklärung für diese Umstände hatte, versuchte ich sie einfach zu ignorieren und wegzuschieben. Als ich am 24.Dezember mit meinem Bruder nach Hause ging, glaubte ich zum ersten Mal ich müsste sterben. Trotzdem konnte ich mich immer noch niemandem anvertrauen. Der Totalzusammenbruch folgte schlussendlich gleich am nächsten Tag. Ich hatte Angst vor meinem eigenen Zimmer, vor jeder Bewegung, vor jedem Gang zur Toilette, sogar vor meinen eigenen Gedanken.
Kaputt wie ich
Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Weihnachtsferien meine allerliebsten Ferien. Ich liebte unseren Christbaum, das leckere Essen, unsere selbstgebaute Krippe aus einer Obstschachtel, stundenlanges Lesen, Kuschelsocken, Geschenke auspacken und die kleinen Weihnachtsfeiern mit meinen Freunden. 2011 verbrachte ich diese Zeit in der Hölle, meinem Kopf. Zwei Wochen lang lag ich ausschließlich in dem Bett meiner Mutter und schaute aus dem Fenster. Die Nächte glichen Horror-Trips. Mein Körper war so unendlich müde, aber mein Kopf ließ mich nicht schlafen. Stundenlanges Zittern, Schwitzen, das Gefühl zu Ersticken, Herzrasen, Kontrollverlust und der Glaube daran sterben zu müssen, ließen mich nächtelang kein Auge zu tun. „Wie wäre es wohl, das alles selbst zu beenden?“, fragte ich mich, während ich aus dem Fenster starrte. „Mit 14 Jahren ist doch niemand so kaputt wie ich.“
Zuerst lehnte ich eine Psychotherapie vollkommen ab. „Braucht man ja mit 14 noch nicht“, dachte ich mir. Es wurde jedoch von Tag zu Tag schlimmer und ich willigte ein, es doch zumindest einmal zu probieren. Daraus wurden 2 1/2 Jahre. An die ersten Fragen die ich meiner Therapeutin gestellt habe, kann ich mich bis heute erinnern:„Ist das normal? Hatten Sie schon einmal Menschen in meinem Alter, denen es genauso ging? Wann hört das wieder auf?“ Lächelnd antwortete sie mir:„Was ist denn schon „normal?“ Ja, ich hatte schon viele Menschen in deinem Alter, denen es ähnlich ging.“ Kurze Pause. „Aufhören wird das nie wieder, also zumindest nicht so, wie du eine Erkältung auskurieren kannst.“
Leben lernen
Zugegeben, ich brauchte einige Zeit bis ich verstand, was sie damit meinte. Ich musste damit leben lernen. Die Intensität, in der mich meine Panikattacken und Angststörungen heimsuchten, wird nicht mein Leben lang anhalten, wenn ich an mir arbeite. Der erste und wahrscheinlich einer der schwersten Schritte war Akzeptanz. Lange Zeit lehnte ich meine Panik und Angst vollkommen ab. Für mich waren sie etwas, das nicht in meinem Leben sein durfte. Je mehr ich jedoch ihre Funktion verstand, mehr über mich und mein Leben lernte, desto besser gelang es mir sie anzunehmen. Und ja, es wurde besser. Doch eigentlich fing es gerade erst an.
Verschwinden
Mit meinem Therapiebeginn lernte ich auch meine Depression kennen. Allerdings konnte ich nie wirklich darüber sprechen, wusste überhaupt nichts damit anzufangen und versteckte sie auch so gut es ging vor meiner Therapeutin. Zwei Jahre später geriet ich auch noch in eine Essstörung. Mein Umfeld sprach mich darauf an, ich leugnete es. Konnte es selbst nicht sehen. Ich verlor nicht nur zunehmend an Gewicht, sondern auch jegliches Interesse am Leben. In meinem Leben gab es nur noch Platz für Depression, Essstörung und gute Noten. Krankhafter Ehrgeiz brachte mir zwar eine Eins nach der anderen, nahm mir jedoch sonst alles. Anfangs wollte ich mich einfach mal wieder leicht fühlen. Nie werde ich vergessen, wie ich an Weihnachten 2014 alleine in meinem Zimmer saß und mir so sehr wünschte, einfach zu verschwinden.
Alle Jahre wieder…
…ist die Weihnachtszeit eine Herausforderung für mich. Es wird ziemlich spät hell und bald wieder dunkel, oft ist es bitterkalt und die Straßen sind meist noch überfüllter als sonst schon. Überall glitzern Lichter, viele freuen sich schon auf das Fest mit der Familie und zahlreiche Menschen bieten mir Kekse, Lebkuchen und Punsch an. Soziale Events gibt es in dieser Zeit auch nicht zu wenig. Eine Weihnachtsfeier jagt die nächste, Treffen am Weihnachtsmarkt gehören fast schon zum guten Ton und nicht zu vergessen: die Familienfeiern. Eine wirklich lange Zeit war ich vollkommen überfordert und zog mich einfach zurück. Von Ende November bis zum 7.Jänner tauchte ich unter, weil mir alles so aussichtslos erschien. Wie können Menschen so glücklich sein, wenn doch jede Sekunde sinnlos ist? Ja, auch heute fällt es mir noch schwer dieser Zeit etwas abzugewinnen. Der große Unterschied zu früher jedoch ist: Es ist ok. Ich setze mich nicht mehr unter Druck, weil ich doch jetzt eigentlich „gut drauf sein müsste“, in mir jedoch absolute Leere herrscht.
Heute kann ich offen und ehrlich über meine Gedanken und Gefühle sprechen. Mir wird häufig gesagt, dass ich ein sehr lebensfroher Mensch bin und andere ermutige, ebenfalls zu sich zu stehen. Das ist auch mein Weihnachtswunsch für dich. Achte auf dich. Nur, weil Weihnachten ein „Fest der Freude, Liebe und Familie“ ist heißt das nicht, dass du für andere funktionieren musst, um deren Weihnachten so perfekt wie möglich zu machen. Du bist wichtig, auch an Weihnachten.
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